A. wurde 1899 in der Normandie geboren, mit zwölf Jahren von der Schule genommen und arbeitete dann auf einem Bauernhof. Als Landarbeiter, wie sein Vater und wahrscheinlich auch sein Großvater, Urgroßvater usw. Ein Strohsack über dem Stall war sein neues Heim. Der Erste Weltkrieg verschonte ihn, er war noch zu jung. Danach arbeitete er in einer Seilerei und lernte seine Frau kennen, die gerade aus der Margarinefabrik gewechselt war. Die Industrialisierung begann in L., einem Ort, der nicht genauer benannt wird, dreißig Kilometer von Le Havre. Dass A. irgendwann Vater einer Literatur-Nobelpreisträgerin sein würde, wäre ihm wohl nie in den Sinn gekommen.

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux schreibt die Biographie ihres Vaters. Dabei wird sie zur genauen Beobachterin der einfachen Verhältnisse, aus denen sie stammt. Teilweise erscheint uns diese Zeit unendlich fern, dabei geht es doch nur um das vergangene Jahrhundert. Doch manche Werte, Gebräuche und Einstellungen kommen uns heute sehr weit weg vor.

Annie Ernaux schreibt über ihren Vater

Ernaux Eltern kauften einen Kramladen mit Kneipe in La Vallée, einer Arbeitersiedlung rings um eine Textilfabrik. Ein Fortschritt:

"Am Anfang ein Schlaraffenland. Regale voller Nahrungsmittel und Getränke, Leberwurstkonserven, Keksschachteln. Staunen, wie einfach es plötzlich war, Geld zu verdienen, fast ohne körperliche Anstrengung."

Doch das Geld reichte nicht aus und so musste der Vater zusätzlich wieder einen Job auf einer Großbaustelle, später in einer Ölraffinerie annehmen.

Die erste Tochter starb an Diphterie, der Zweite Weltkrieg folgte, doch der Vater wurde nicht mehr eingezogen. Er war schon zu alt. Die Raffinerie wurde von den Deutschen niedergebrannt, der Lebensmittelladen geplündert. Der Winter 1942 war geprägt von Angst, Hunger, Kälte, "aber man musste ja trotzdem leben." Die Zweite Tochter wird geboren, Annie Ernaux, die Erzählerin.

Nun zu dritt findet die Familie in der alten Heimat nur noch Trümmer vor, der Vater wird Teil eines Räumungstrupps und kauft schließlich wieder einen kleinen Kramladen – zusammen mit einer Kneipe. Zwar noch mit Klo im Hof, aber das Arbeiterleben scheint nun endgültig vorüber. Für beide Eltern. Endgültig?

Das Leben als unsicheres Terrain

Annie Ernaux Vater ist ständig angespannt, zwar ist er der erste in seiner Familie, der sein Haus besitzt, aber er hat wenig Zeit, das Leben ist ein für ihn unsicheres Terrain. Stets fürchtet er,

"seinen Platz" nicht halten zu können, also seine soziale Stellung zu verlieren, in die Armut zurückzufallen.

Wenn er in die Hauptstadt muss, fühlt er sich verloren, schämt sich beispielsweise, dass er mit einem Ticket für die Zweite Klasse, unwissentlich in die Erste gestiegen war. Dass er dabei auch noch erwischt wird, verstärkt die Pein. Verfolgt ist er von dem Gedanken: "Was werden die Leute von uns denken." Verfolgt von der Angst, mit den Veränderungen der Welt nicht standhalten zu können, dem Aufkommen von Supermarktketten, aber auch dem Abstieg der Normandie in eine Armutsregion.

Doch seine Tochter schafft den sozialen Aufstieg, sie beendet das Gymnasium, geht nach Rouen zum Studieren und wird Grundschullehrerin. Mit zunehmendem Alter richtet sich ihr Vater langsam im Leben ein, in seiner Bescheidenheit. Er erkennt die Vögel an ihrem Gesang, wäscht weiterhin sein Gesicht in der Küche, obwohl sie mittlerweile überall Badezimmer eingebaut haben, baut Schuppen und Garagen, züchtet Hühner und Kaninchen. "Von nun an für ihn immer dasselbe Leben. Aber die Überzeugung, dass man nicht glücklicher sein kann, als man ist."

Tief sitzende Ängste

Die Erzählerin heiratet schließlich einen Politikstudenten, sie ziehen in die Alpen. Der Schwiegersohn stammt aus gutem Hause, arbeitet in der Verwaltung, interessiert sich nicht für die Eltern, die Heimat, die einfache Herkunft seiner Frau. Sie schreibt:

"Wie sollte ein Mann, der ins Bildungsbürgertum hineingeboren war, sich in der Gesellschaft rechtschaffener Leute wohlfühlen, die unfähig sind, ein geistreiches Gespräch zu führen."

Die Eltern spüren das, es bestätigt tief sitzende Ängste. Aber diese werden nicht artikuliert. Runterschlucken und gut.

Das Leben des Vaters ist auch die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg der Eltern und der gleichzeitigen Angst, wieder "abzurutschen," von der Angst, nicht zu bestehen – und das in einer Welt, die sich in rasantem Tempo verändert.

Als Großvater denkt A. schließlich über den Verkauf seiner Kneipe und seines Lebensmittelgeschäftes nach. Doch bevor es dazu kommt, stirbt er mit 67 Jahren. Ernaux hatte bereits eine Vorahnung:

"Das Kind spielte im Garten. Ich saß an seinem Bett und versuchte, Simone de Beauvoirs Mandarins von Paris zu lesen. Ich konnte mich nicht auf die Lektüre konzentrieren, auf irgendeiner Seite dieses dicken Buchs würde mein Vater nicht mehr leben."

Annie Ernaux quält sich damit, sich von ihren Eltern entfremdet zu haben, sie zurückgelassen zu haben, "an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt." Nach dem Tod ihres Vaters findet sie einen kleinen Zeitungsausschnitt in seinem Portemonnaie. "Der Zeitungsartikel listet die Ergebnisse der Aufnahmeprüfung an der Fachschule für Grundschullehrerinnen auf, nach Noten sortiert." Der Vater trug ihn immer bei sich, heimlich, aber stolz. Wäre er noch am Leben, er hätte wohl alle Berichte zum Nobelpreis für seine Tochter ausgeschnitten und aufgehoben.

Aufstieg, Veränderungen und Sorgen

Im Gegensatz zu "Die Jahre", der Autobiografie Ernaux, ist "Der Platz" ein in sich geschlossener, äußerst angenehm zu lesender Rückblick auf den gesellschaftlichen Aufstieg ihres Vaters, über die Veränderungen, die sein Leben prägten – und die Sorgen. Das Buch macht deutlich, wie sehr sich die Welt in nur einem Jahrhundert verändert hat. Von Lehmböden zur Fußbodenheizung, von Kindern, die an Diphterie starben zu Impfungen, von Klassenbewusstsein zu – ja, was ist draus eigentlich geworden?

Die Scham ihres Vaters, aus einfachen Verhältnissen zu kommen, fängt sie sehr authentisch ein. Ihre eigene Scham mutet jedoch heute, nochmal sechzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters, seltsam an. Und gerade deshalb ist dieses Buch so wertvoll.  

Annie Ernaux, Der Platz, 95 Seiten, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 11 Euro.

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